Gewalt

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Ausgearbeitet von Lasse Lütjens


Diskussionsgrundlage

Gewalt:
Zu waltan [stark sein], [herrschen], die Anwendung von physischem und psychischem Zwang gegenüber von Menschen. Gewalt umfasst 1) die rohe, gegen Sitte und Recht verstoßende Einwirkung auf Personen (lat. Violencia), 2) das Durchsetzungsvermögen in Macht- und Herrschaftsbeziehungen (lat. Potestas). Während z.B. das Englische (violence/power) und das Französische (violence/pouvoir) der sprachlichen Unterscheidung das Lateinischen folgen, vereinigt das Deutsche beide Aspekte. Die Schwierigkeiten im deutschen Sprachgebrauch liegen besonders in der vielfältigen Möglichkeit von Wortzusammensetzungen mit dem Begriff Gewalt; dadurch werden grundlegende Unterschiede zwischen staatlicher Machtbefugnis und Amtsausübung einerseits und über sie hinausgehender Gewaltherrschaft und individueller Gewalttätigkeiten andererseits verwischt. Im sozialen Sprachgebrauch wird unterschieden zwischen retardierender Gewalt (Ordnungsgewalt) und progressiver Gewalt (Änderungsgewalt). Vor allem im Rahmen der Friedens- und Konfliktforschung begegnet seit den 1960er Jahren die Gegenüberstellung von struktureller Gewalt (indirekt) und personaler Gewalt (direkt). Die Psychologie bestimmt Gewalt als Ausdruck von Aggressionen, entweder im Sinne eines Ererbten (K. Lorenz, I. Eibl-Eibesfeld u.a.) oder durch Frustrationen (J. Dollard) verursachten menschlichen Triebs oder als sozial vermitteltes und gelerntes Verhalten... Neben den genannten Aspekten wird das Wort Gewalt auch im Sinne von Kraft (Naturgewalt) und als Metapher (Schlüsselgewalt, Redegewalt) gebraucht.
Bei begrifflicher Eingrenzung des Phänomens Gewalt kann - in absteigender Linie vom weitesten zum engsten Begriff - unterschieden werden zwischen Herrschaft, Macht, Zwang und Gewalt....Im Hinblick auf die allgemeinen Rahmenbedingungen kann sich Gewaltätigkeit entwickeln zwischen Staaten (Krieg) oder innerhalb eines Staates, also innerhalb der ihn tragenden Gesellschaft; hierbei kann die verletzende Gewalt ausgehen von repressiven Maßnahmen der Staatsgewalt (Folter, Terror) oder von Einzelgruppen der Gesellschaft (Guerilla, Terrorismus).... Von besonderer, auch rechtspolitischer Bedeutung sind die Anwendung von Gewalt und die Frage ihrer Verwerflichkeit im Zusammenhang mit Sitzblockaden mit demonstrativen Charakter (Bundesverfassungsgericht: Sitzdemonstrationen), um Kraftfahrer zum Halten zu zwingen. Die Klassifizierung dieses Verhaltens als Gewalt im Rahmen der Strafbarkeit der Nötigung ist lebhaft umstritten, entspricht aber herrschender Meinung in Rechtsprechung und Lehre.....Die Bereitschaft zur Gewaltanwendung gegen ethnische, nationale, religiöse oder auf die Wahrung ihrer kulturellen Eigenständigkeit bedachte Minderheiten gab es in der Geschichte immer schon; so entlud isch z.B. der seit dem Mittelalter zu beobachtende Antisemitismus immer wieder in Pogromen und gipfelte im 20 Jh. In der systematisch geplanten und mit bürokratischer Akribie betriebenen physischen Vernichtung der europäischen Juden im Machtbereich des nat.-soz. Deutschland..... Das Recht zur Anwendung kriegerischer Gewalt in internationalen Auseinandersetzungen ist heute völkerrechtlich eng begrenzt (Kriegsrecht). Die nach innen gerichtete Staatsgewalt unterliegt im Rechtsstaat rechtlichen Bindungen, um ihren Missbrauch gegenüber den ihr Unterworfenen zu verhindern. (z.B. Gewaltenteilung etc.).

Die politische Gewalt aus philosophischer und ideologischer Sicht

Um als legitime Herrschaft zu gelten, bedarf die staatliche Gewalt eines sittlichen Fundaments, das die christliche Staatsethik in der Ableitung aller Obrigkeit von Gott ...und die Aufklärung in der Bindung an die Vernunft sehen. Nach H. Grotius ist Gewalt legitim, solange sie nicht das Recht eines anderen verletzt. Für Grotius gibt es drei Formen der Gewalt: die naturrechtlich gesicherte Gewalt als Eigenschaft des freien Menschen; die unrechtmäßige Gewalt, die auf die Rechtssphäre eines anderen Menschen übergreift, und die legitimierte Gewalt, die die Gewalt eines anderen abwehrt...Nach T. Hobbes beruht die Einrichtung legitimierter Gewalt im Staatswesen auf der Furcht der Bürger vor Gewalt und seinem Verzicht darauf, selbst Gewalt auszuüben. I. Kant sieht in Freiheit und Gesetz die zwei Angeln der bürgerlichen Gesetzgebung; dem Gesetz aber müsse Gewalt verbunden sein, damit es nicht leere Anpreisung sei....Seit der Französischen Revolution von 1789 verbindet sich der Gedanke der Gewalt in der politischen Realität mit dem Souveränitätsgedanken; dabei ist aber nicht mehr der einzelne, sondern das Volk die Quelle legitimer Gewalt...K. Marx und die ihm folgenden Lehren das Marxismus betrachten die Gewalt als geschichtlich notwendiges Mittel für den Übergang von einer Klassenherrschaft zur anderen. Gewalt sei, so Marx, die Geburtshelferin jeder Gesellschaftsform, die mit einer neuen schwanger geht, z.B. beim Übergang vom Feudalismus zum Kapitalismus, vom Kapitalismus zum Sozialismus....Gegenstand der Friedens- und Konfliktforschung ist neben der Gewalt zwischen einzelnen und Gruppen (personale Gewalt) vor allem die strukturelle Gewalt, definiert als immanent vorgegebene Gewalt, in all den gesellschaftlichen Systemen, die die individuellen Anlagen durch eine ungleiche Verteilung von Eigentum und Macht verhindern (J.Galtung). Diesem erweiterten Gewaltbegriff, der nun mit dem Tatbestand der sozialen Ungerechtigkeit gleichgesetzt wird, entspricht der Begriff Frieden in der Bedeutung von sozialen Gerechtigkeit. Unter dem Aspekt der strukturellen Gewalt wird verstärkt das Abhängigkeitsverhältnis zwischen Industrie- und Entwicklungsländern, die Ausbeutung natürlicher Ressourcen sowie die Verteilung der Entscheidungsgewalt über die Ressourcen und die Belastung der Umwelt mit Schadstoffen diskutiert. Die Notwendigkeit einer rechtlich eingegrenzten und geordneten Gewalt kann nur im Rahmen einer Utopie konflikt- und herrschaftsfreier Gesellschaften bestritten werden...In Auseinandersetzung mit Apologien der Gewalt geht Hannah Arendt vom Unterschied zwischen Macht und Gewalt aus; für sie ist die auf der Zustimmung der Mehrheit beruhende, ständig zur Legitimation gezwungene Macht, nicht die Gewalt die notwendige Bedingung aller sozialer Ordnung.

Diskussionsthesen:

Im Zuge kriegerischer Vergeltung verlieren nicht nur religiöse Fanatiker jegliches Maß an Objektivität. Sind wir nicht im Stande anders als mit blutiger Vergeltung auf den Terrorismus zu reagieren?

Der alte Grundsatz "Auge um Auge" macht schließlig alle blind.
Martin Luther King

Gewalt ist die letzte Zuflucht es Unfähigen
Isaac Asimov (1920-1992, amer. Biochemiker und Schriftsteller russ. Herkunft)

Literatur | Links

Fanton, F. 1966: Die verdammten dieser Erde (a.d. Frz. 1966)
Senghaas, D. 1972: Aggressivität u. kollektive Gewalt (1972)
Galtung, J. 1984: Strukturelle Gewalt. Beiträge zur Friedens und Konfliktforschung (1984)
Horowitz, D.L. 1985: Ethnic groups in conflict (Berkeley, 1985)
Weede, E. 1986: Konfliktforschung (1986)
Laqueur, W. 1987: The age of terrorism (Boston, 1987)
Müller, Max. 1999: Macht und Gewalt: Prolegomena einer politischen Philosophie. Freiburg: Alber.
Ahrendt, Hannah. 1998: Macht und Gewalt. München: Piper.
Kersting, Wolfgang; Ebel, Ingolf. 1996: Thomas Hobbes, Leviathan oder Stoff, Form und Gewalt eines bürgerlichen und kirchlichen Staates. Berlin: Akad.- Verlag.
Haverkamp, Ansehn. 1999: Gewalt und Gerechtigkeit. Frankfurt: Suhrkamp